Im "Land der Träume"?
Mit einer Anbaufläche von 120.900 Hektar und 6.600 Betrieben macht der Gemüseanbau 2016 in Deutschland 52 Prozent der gärtnerisch genutzten Flächen aus. Die Harmonisierung des Pflanzenschutzes, die Düngemittelverordnung, die zunehmenden Extremwetterereignisse und der steigende Siedlungsdruck auf stadtnahe Flächen sind bei den Gemüseanbauern immer wieder intensiv diskutierte Themen. Im Rahmen der 52. Herbsttagung der Bundesfachgruppe Gemüsebau im Zentralverband Gartenbau e. V. (ZVG) und im Bundesausschuss Obst und Gemüse (BOG) vom 16. bis 18. November 2017 in Heidelberg wurden diese Themen behandelt.
Bei der öffentlichen Veranstaltung stand das Thema "Onlinehandel mit Frischprodukten" im Fokus. Die Besichtigung der Lehr- und Versuchsanstalt Gartenbau (LVG) in Heidelberg und zwei Gemüsebetrieben im Handschuhsheimer Feld rundeten das Programm ab.
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Gerhard Hugenschmidt, Präsident des gastgebenden Gartenbauverbandes Baden-Württemberg-Hessen (GVBWH), bezeichnete seine Region wegen der oft höheren Preise und des vermeintlich milderen Klimas als „Land der Träume“. Aber: „Der Weg in den Süden ist kurz. Importe aus zum Beispiel Italien sorgen ebenso für Druck auf die Betriebe, wie die ständige Konkurrenz um Ackerflächen. Dann kann aus dem Traum schnell ein Alptraum werden“, erklärte der Badener.
Dies bestätigte auch Friedlinde Gurr-Hirsch, Staatssekretärin im Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz in Baden-Württemberg. Nach den extremen Schäden durch Spätfröste in diesem Frühjahr will das Land den Betrieben mit 50 Millionen Euro helfen, die Folgen des Klimawandels durch technische Einrichtungen, wie zum Beispiel Frostschutz-Beregnung, abzumildern. Mit der Regionalkampagne „Natürlich von Daheim“ soll der heimische Anbau gefördert werden. Musterregionen für den Bio-Anbau werden gerade ausgeschrieben.
Zerstückelte Flächen sind ein Problem
Dr. Michael Ernst, Staatsschule für Gartenbau, Hohenheim, brachte die aktuelle Lage im Gemüsebau gekonnt auf den Punkt. Oft seien zerstückelte Flächen eines der größten Probleme. Geschuldet sei dies der, im Süden vorherrschenden, Realteilung im Erbrecht. Als positives Beispiel brachte Ernst die Bio-Pioniere an, die häufig aus Baden-Württemberg kommen. Die Initiative zum kontrollierten Integrierten Anbau von Gemüse als umweltschonendes Anbauverfahren kommt aus diesem Bundesland.
Moderne Gemüsesiedlungen
Johannes Bliestle, Reichenau Gemüse eG, sprach über die Entwicklung der Insel Reichenau und das Wachstum durch Siedlungen außerhalb der Insel. Dabei zeigte er auf, wie schwierig es sein kann, geeignete Flächen für größere Projekte zu finden. Oft stoßen die Anlagen auf große Wiederstände in der Bevölkerung. Nur durch die Einbeziehung der vor Ort lebenden Menschen von Anfang an, sind die Siedlungen heute noch zu realisieren. Da ein Wachstum auf der kleinflächig aufgeteilten Insel Reichenau kaum noch möglich ist, müssen die Gärtner auf das „Festland“ ausweichen.
Schöne neue Online-Welt
Fünf Referenten gaben von ganz verschiedener Warte aus einen Einblick in den Onlinehandel von frischem Gemüse und Tipps für den Onlineauftritt der Unternehmen. Am markantesten klang Peer Bentzen aus dem Bereich Geschäftsentwicklung der Deutsche Post DHL Group. Das größte Wachstum online spiele sich in den Bereichen Essen und Trinken (food and drinks) ab. In rasantem Tempo stellte er Dutzende von rasch wachsenden neuen Geschäftsmodellen vor, die beispielsweise Online-Kochkurse veranstalten, zu denen sich Interessenten die passenden Zutaten liefern lassen und mitkochen, oder Supermärkte, die Gemüse vermarkten, das auf dem eigenen Dach wächst.
Steffen Hess, Fraunhofer IESE, Kaiserslautern, geht es um ein Modell, um das Angebot frischer Waren im ländlichen Raum zu verbessern und Erzeugern die Chance zu geben, daran teilzuhaben. So kann beispielsweise der Fahrverkehr mehrerer einzelner Händler gebündelt werden. Nicht vergessen darf man: Werden Verbraucher enttäuscht, entscheiden sich 40 Prozent gegen weitere Bestellungen.
Betriebe vor den Toren Heidelbergs
Eine traditionelle Gärtnersiedlung ist vor über 100 Jahren im Handschuhsheimer Feld vor den Toren Heidelbergs entstanden. Die Ware wurde traditionell am Erzeugergroßmarkt Heidelberg genossenschaftlich verkauft. Über den Umbruch der Gärtnerstrukturen berichteten die Gärtner Hermann Weigold und Manfred Kücherer. Auf 200 ha bewässerbarer Fläche wird frisches Gemüse produziert.
Die Rahmenbedingungen verbessern sich nicht, Stichwort Wasserschutzgebiet, die Zahl der Betriebe verringert sich. Der Betrieb Weigold führt die Gemüsekulturen Feldsalat und diverse Salate weiter und kultiviert daneben immer mehr Beerenobst, zum Beispiel Heidelbeeren oder Stachelbeeren. Himbeeren wachsen in den Foliengewächshäusern. Die Teilnehmer der Veranstaltung konnten sich versichern, dass die letzten Chargen bei guter Ausreife auch im November noch aromatisch schmeckten. Ein wichtiger Absatzweg ist die direkte Vermarktung.
Der Betrieb von Manfred und Magdalena Kücherer startete auf einem 12 Ar großen Gelände - dank der Realteilung hatten die meisten Betriebe nur "schmale Riemen" zur Produktion zu Verfügung. Mittlerweile haben viele der häufig im Nebenerwerb geführte Betriebe aufgegeben. Die übrig gebliebenen Betriebe konnten ihre Flächen über Pachtflächen vergrößern. Der Bau von Glasgewächshausern wurde nicht erlaubt, so Kücherer. Nach seiner Berufsausbildung spezialisierte er den ursprünglichen gemischten Betrieb auf Gemüsebau. Als Alternative zu den Glasgewächshäusern baute er Richel-Folienhäuser mit neuer Technik. Zum Zeitpunkt des Besuchs hingen dort noch reife Tomaten. Zudem kann er auf 20 ha im Freiland wirtschaften. Das Sortiment umfasst Salate, Stangenbohnen, Zucchini und Feldsalat. Die Vermarktung läuft bei ihm über den Großmarkt Mannheim und direkt in die Gastronomie. Kopfzerbrechen bereiten die Regelungen zu den Saison-AK: "Gemüse muss halt 7 Tagen in der Woche geerntet werden, kleinere Betriebe können das kaum mehr organisieren." Das gesamte Freilandareal liegt seit diesem Jahr im Wasserschutzgebiet - wie er da noch wirtschaften kann, ist dem Vollblut-Gemüsegärtner momentan noch nicht klar.
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